«Wie ist der US-Kapitalismus zum US-Korporatismus mutiert?», fragt Jeffrey A. Tucker, Gründer und Präsident des Brownstone Institute. So sei es in den 1990er Jahren und bis weit in das 21. Jahrhundert hinein üblich gewesen, die Regierung für ihre technologische Rückständigkeit zu verspotten. Tucker:
«Wir alle bekamen Zugang zu fantastischen Dingen wie Websites, Apps, Suchwerkzeugen und sozialen Medien. Aber die Regierungen steckten auf allen Ebenen in der Vergangenheit fest und arbeiteten mit IBM-Mainframes und grossen Diskettenlaufwerken. Wir hatten viel Spass dabei, uns über sie lustig zu machen.
Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich dachte, dass die Regierung niemals den Ruhm und die Macht des Marktes einholen würde. Ich habe mehrere Bücher darüber geschrieben, voll von technischem Optimismus.»
Der neue Technologiesektor sei von einem libertären Ethos durchdrungen gewesen. Die Unternehmen hätten sich nicht um die Regierung und ihre Bürokraten gekümmert. Sie hätten keine Lobbyisten in Washington gehabt. Sie hätten sich verstanden als die Entwickler der neuen Technologien der Freiheit und sich wenig um die alte analoge Welt von Befehl und Kontrolle gekümmert.
Es habe der Glaube geherrscht, «sie würden ein neues Zeitalter der Volksmacht einläuten», so Tucker. Doch es sollte anders kommen. Tucker:
«Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, haben wir den dokumentierten Beweis, dass das Gegenteil eingetreten ist. Der private Sektor sammelt die Daten, die die Regierung kauft und als Kontrollinstrument einsetzt. Was weitergegeben wird und wie viele Menschen das Ganze zu sehen bekommen, ist eine Frage von Algorithmen, die von einer Kombination aus Regierungsbehörden, Universitätszentren, verschiedenen gemeinnützigen Organisationen und den Unternehmen selbst vereinbart wurden. Das Ganze ist zu einem bedrückenden Klumpen geworden.»
Jedes grosse Unternehmen, das sich früher von Washington ferngehalten habe, besitze heute einen Riesenpalast in oder um Washington – und die Konzerne kassieren Dutzende von Milliarden von der Regierung. Die Regierung sei, so Tucker, inzwischen ein wichtiger Kunde, wenn nicht sogar der Hauptkunde der von den grossen sozialen Medien- und Technologieunternehmen angebotenen Dienste geworden.
Amazon, Microsoft und Google sind laut einem Bericht von Tussel die grössten Gewinner von Regierungsverträgen. Amazon beherbergt die Daten der National Security Agency mit einem 10-Milliarden-Dollar-Vertrag und erhält Hunderte von Millionen von anderen Regierungen. «Wir wissen nicht, wie viel Google von der US-Regierung erhalten hat, aber es ist sicherlich ein erheblicher Anteil an den 694 Milliarden Dollar, die die Bundesregierung an Verträgen vergibt», ist sich Tucker sicher.
Auch Microsoft hat mit der Regierung üppige Verträge gemacht. So habe das US-Verteidigungsministerium im Jahr 2023 den Joint Warfighter-Cloud-Capability-Vertrag mit Microsoft, Amazon, Google und Oracle abgeschlossen. Der Vertrag habe einen Wert von bis zu 9 Milliarden Dollar und versorgt das Verteidigungsministerium mit Cloud-Diensten. «Und das ist erst der Anfang», wie Tucker anmerkt. «Das Pentagon ist auf der Suche nach einem Nachfolgeplan, der noch grösser sein wird.»
Eigentlich würden wir nicht einmal das volle Ausmass kennen, aber dieses sei gigantisch. Diese Unternehmen würden zwar die üblichen Verbraucherdienstleistungen erbringen, aber ein wichtiger und sogar entscheidender Kunde sei die Regierung selbst. Tucker:
«Daher ist die alte Lachnummer, die Regierungsbehörden würden technologisch total rückständig sein, nicht mehr aktuell. Heute ist die Regierung einer der Hauptabnehmer von Technologiedienstleistungen und einer der Haupttreiber des KI-Booms.
Das ist eines der bestgehüteten Geheimnisse im öffentlichen Leben der USA, über das in den Mainstreammedien kaum gesprochen wird. Die meisten Menschen halten Technologieunternehmen immer noch für Rebellen des freien Unternehmertums. Das ist aber nicht wahr.»
Das Gleiche gelte natürlich auch für Pharmaunternehmen. Diese Beziehung reiche sogar noch weiter in die Vergangenheit zurück und sei sogar noch enger, sodass es keinen wirklichen Unterschied zwischen den Interessen der FDA/CDC und der grossen Pharmaunternehmen gibt. «Sie sind ein und dasselbe», konstatiert Tucker.
In diesem Zusammenhang könnte man auch den Agrarsektor nennen, der von Kartellen beherrscht werde, die die Familienbetriebe verdrängt hätten. Ein Regierungsplan und massive Subventionen bestimmen, was und in welcher Menge produziert werde. Es liege nicht an den Verbrauchern, dass ihre Cola mit einem beängstigenden Produkt namens «Maissirup mit hohem Fruchtzuckergehalt» versetzt sei, dass ihr Schokoriegel und ihr Gebäck dasselbe enthalte und dass sich Mais in ihrem Benzintank befinde. Dies sei ausschliesslich das Produkt von Regierungsbehörden und -budgets.
In der freien Wirtschaft gelte die alte Regel, dass der Kunde immer Recht hat. Das sei ein wunderbares System, das manchmal als Verbrauchersouveränität bezeichnet werde. Seine Einführung in der Geschichte, die vielleicht auf das 16. Jahrhundert zurückgeht, sei ein enormer Fortschritt gegenüber dem alten Zunftsystem des Feudalismus gewesen und sicherlich ein grosser Schritt gegenüber den alten Despotien. Tucker:
«Was aber passiert, wenn der Staat selbst zum wichtigsten und sogar dominierenden Kunden wird? Das Ethos der Privatwirtschaft wird dadurch verändert. Die Unternehmen sind nicht mehr in erster Linie daran interessiert, der Allgemeinheit zu dienen, sondern richten ihre Aufmerksamkeit darauf, ihren mächtigen Herren in den Hallen des Staates zu dienen, wobei sie nach und nach enge Beziehungen knüpfen und eine herrschende Klasse bilden, die zu einer Verschwörung gegen die Allgemeinheit wird.»
Früher habe man dies «Vetternwirtschaft» genannt, was vielleicht einige der Probleme im kleinen Rahmen beschreibe. Doch was wir heute sehen würden, sei eine andere Ebene der Realität, die einen ganz anderen Namen brauche. «Dieser Name ist Korporatismus, eine Wortschöpfung aus den 1930er Jahren und ein Synonym für Faschismus, bevor dieser aufgrund von Kriegsallianzen zu einem Schimpfwort wurde», so Tucker. Und weiter:
«Korporatismus ist etwas Bestimmtes, nicht Kapitalismus und nicht Sozialismus, sondern ein System des Privateigentums mit einer kartellisierten Industrie, die in erster Linie dem Staat dient.
Die alten Unterscheidungen zwischen öffentlichem und privatem Sektor – die von allen wichtigen ideologischen Systemen weitgehend übernommen wurden – sind so unscharf geworden, dass sie keinen Sinn mehr machen. Und dennoch sind wir ideologisch und philosophisch nicht darauf vorbereitet, mit dieser neuen Welt auch nur annähernd intellektuell umzugehen.
Und nicht nur das. Es kann sogar extrem schwierig sein, die Guten von den Bösen im Nachrichtenstrom zu unterscheiden. Wir wissen kaum noch, wen wir in den grossen Kämpfen unserer Zeit anfeuern oder ausbuhen sollen.»
Manch einer mag anmerken, so Tucker, dass dies ein Problem sei, das weit in die Vergangenheit zurückreiche. Und das sei auch richtig. Doch der heutige Zustand unterscheide sich in Grad und Reichweite. Tucker:
«Die korporatistische Maschine verwaltet heute die wichtigsten Produkte und Dienstleistungen in unserem zivilen Leben, einschliesslich der gesamten Art und Weise, wie wir Informationen erhalten, wie wir arbeiten, wie wir Bankgeschäfte tätigen, wie wir mit Freunden in Kontakt treten und wie wir einkaufen. Sie verwaltet unser gesamtes Leben in jeder Hinsicht und ist zur treibenden Kraft für Produktinnovation und -design geworden.»
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