«Unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt sich gerade das Jahr 2015», meint Eric Gujer, Chefredaktor der NZZ. So willkommenstrunken wie die Deutschen damals waren, so erschrocken seien sie jetzt über «die Erfahrung des Kontrollverlusts in breiten Bevölkerungsschichten». Mit realen Menschen kamen auch reale Probleme. Keine noch so deutsche Romantik könne darüber hinwegtäuschen.
Ich denke nicht, dass Herr Gujer recht hat. Denn er vergleicht verschiedene Lager miteinander, und die hat es 2015 ebenso gegeben wie sie sich nun im Jahr 2024 offenbaren. Gefühlvolle Illusionisten auf der einen Seite, mahnende Realisten auf der anderen. Der grenzenlosen Liebe für den Übernächsten, die jegliche Konsequenzen für den eigentlich Nächsten ausblendet, entspricht heute die uferlose Diffamierung selbständig-kritischer Mitmenschen.
Wer keine Teddybären warf, der war ein potentieller Menschenfeind; wer seinen Platz im Altersheim nicht räumt für den Großen Austausch, ist ein unsolidarischer Rassist; wer weiterhin die Biologie über eine Gendologie stellt, verachtet postulierte Minderheiten. Besoffen vom Weihrauch der eigenen heiligen Gesinnung, taumeln wieder gröhlend Massen durchs Land. Wollte man ihre bunten Farben mischen, ergäbe das eine allzu bekannte erdige.
«Gelernt haben die [besser: jene] Deutschen nichts aus ihrer Schwärmerei», resümiert Herr Gujer. «Für sie ist keine Dummheit zu gross, als dass sich diese nicht ein zweites Mal begehen liesse, sofern sie sich nur moralisch verbrämen lässt.» Recht hat er. Muss man es noch eigens erwähnen, dass sich auch diesmal wieder Kirchenfürsten hervortun in eilfertigstem Gehorsam und die − fast hätte ich gesagt: rechte − politische Gesinnung zum Glaubensbekenntnis erheben?
Das ist zum Kotzen. Wieder werden Menschengruppen zu Feinden erklärt, von geistig uniformierten Führern inszenierter Proteste verbal ihrer Würde beraubt, werden im ach so säkularen Deutschland normale Leuten mit religiöser Inbrunst zum Abschwören «falscher» Gesinnungen genötigt, während sich die Treiber an ihrem Gratismut besaufen.
«Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns», kann man die neuen Parolen zusammenfassen. «Wer nicht mitmacht bei der neuen Abgrenzung gegen alles Nichtlinke, der hat die Folgen zu spüren.»
Im Original klingt das ziemlich anders. Dort sagt Jesus:
«Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.»
(Markus 9, Vers 40)
Der Kreis ist weiter zu ziehen als es dem einzelnen scheinen mag. Auch andere, ausserhalb des engeren Jüngerkreises, wirkten ganz ähnlich wie diese. Der Meister verweigerte es seinen Freunden explizit, hier eine künstliche Grenze aufzuziehen.
Das machen nur Menschen mit einem unsicheren Selbst. Identität durch Abgrenzung bleibt eine negativ definierte. Je ungewisser der Mensch durch sein Leben geht, desto stärker müssen die Krücken sein, auf die er sich stützt, und desto leichter benutzt er sie als Schlagstöcke.
Fanatiker sind nie die gläubigsten Vertreter ihrer Religion, sondern immer die schwächsten, denn sie müssen sich ihre eigene Rechtgläubigkeit beweisen.
Wer seine «Haltung» laut, aggressiv und verleumderisch kundtun muss, der hat keine gute Haltung, zumindest keine gefestigte.
Wer dem andern zuhören und für seine eigene Überzeugung argumentieren kann, von dem geht Weite aus. Er erkennt Gemeinsamkeiten und freut sich daran. Er wirkt inklusiv, solidarisch, farbenfroh. Nur ein geweitetes Herz kann das obige Wort aussprechen: «Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns». So schlicht wie wahr wie not-wendig.
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Wort zum Sonntag vom 28. Januar 2024: Abgedrängt in Neuland
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf.