Kurz vorweg, warum möchten Sie lieber anonym bleiben?
Man hat gesehen, dass es Sanktionen gibt, wenn man den Kopf aus der Deckung nimmt, und man mit Konsequenzen rechnen muss, wie zum Beispiel einer Suspendierung und so weiter.
Seit über 30 Jahren arbeiten Sie an einem Gymnasium in einer Stadt im Ruhrgebiet, seit einiger Zeit auch als Schulleiterin. Was hat sich in diesen drei Dekaden verändert?
Es sind sehr viele neue Verwaltungsaufgaben dazugekommen, etwa durch die internationalen Förderkinder oder die Digitalisierung, die uns einfach von oben vorgeschrieben werden. Ausserdem wird die sozialpädagogische Arbeit immer mehr, dass ich mich frage, wann ich eigentlich noch unterrichte. Und seit rund zehn Jahren ist es in der Schule viel unruhiger geworden.
Die Lehrpläne wurden auf Kompetenzen umgestellt. Und das Zentralabi, bei dem NRW-weit alle Abiturienten dieselben Aufgaben gestellt bekommen, führte dazu, dass die Schülerinnen und Schüler viel mehr auswendig lernen müssen. Dasselbe passiert ja auch an den Universitäten.
Ausserdem bringen die Kinder schon von der Grundschule keine genügenden Fähigkeiten mit. Die Kompetenzen in Mathematik beispielsweise bewegen sich häufig nur auf dem Niveau der dritten Grundschulklasse.
Warum gehen diese Kinder dann auf ein Gymnasium?
Sie müssen sich von dem Begriff Gymnasium verabschieden! Wir sind anscheinend einfach eine Schule. Die Eltern entscheiden am Ende, auf welche Schulform ihr Kind gehen soll, da ist es gleich, was das Grundschulgutachten ergibt. Trotz eingehender Beratung sind die Eltern oftmals nicht kooperationsbereit. Auch wenn sie zum Beispiel eine Realschulempfehlung von der Grundschule erhalten, wollen Eltern ihr Kind bei uns anmelden.
Grundvoraussetzung zum Besuch eines Gymnasiums sind aber nicht immer nur die Noten und erworbenen Kompetenzen. Es ist auch entscheidend, dass Kinder Freude am Lernen haben, dem Leben gegenüber offen und fleissig sind.
Wir haben insgesamt 700 Schüler, Platz ist eigentlich für 650. Jedes Schuljahr nehmen wir 85 Kinder auf, in jeder fünften Klasse sind bis zu 30 Schüler. Seit wenigen Jahren sind wir auch eine sogenannte «Schule des integrativen Lernens». Das bezieht sich auf Schüler mit Lerndefiziten, diese integrativen Kinder machen aber kein Abitur. Die Idee dabei ist, dass Kinder mit Lerndefiziten mit normalen Kindern lernen. Das war damals eine politische Entscheidung.
Funktioniert dieses integrative Lernen?
Das kommt immer auf den Förderlehrer an. Jede integrative Klasse wird jeweils im Zweierteam unterrichtet. Auch die Eltern werden vorher gefragt, ob sie das möchten.
Aber ganz ehrlich: Die lernfähigen Kinder sind dabei unterfordert.
Sie haben von mehr Unruhe in der Schule gesprochen, was trägt dazu bei?
Die Handys und Tablets führen dazu, dass die Aufmerksamkeit der Schüler nachgelassen hat. Zwar dürfen Mobiltelefone in der Sekundarstufe eins, also in der fünften bis zehnten Klasse, nicht verwendet werden, aber die Schüler müssen ihre Handys nicht abgeben – das wäre doch wieder ein weiterer Verwaltungsakt.
Die Technik hat uns einfach überrollt. Besonders für ältere Kollegen ist das nicht immer einfach. Während des Unterrichts zum Beispiel filmen Kinder die Lehrer. Wir haben gar nicht die Kapazitäten immer alle Funktionen der Tablets zu kontrollieren. Die Schüler sind in technischen Dingen viel besser als wir.
Corona wurde dazu verwendet, die Digitalisierung durchzubringen. Die Schulen sind alle ausgestattet mit iPads. Dafür war Geld da!
Gleichzeitig verfallen unsere Toiletten, der bauliche Zustand ist ein Trauerspiel: Türen fehlen, Waschbecken funktionieren nicht, die Zwischendecke wird von den Schülern immer weiter zerlegt, Urinale fliessen über. Die Kinder stellen dann Videos online, wie sie zum Beispiel mit endlos viel Klopapier die Toiletten verstopfen – geschuldet den sogenannten Challenges auf Tiktok.
Wie hat sich der Unterricht durch die Digitalisierung verändert?
In der Klasse sitzen also 30 Schüler – alle mit ihrem Tablet. Wenn die Kinder sich damit Notizen machen, schreiben sie zwei Worte und dann müssen sie weiterscrollen, um den Satz fortzusetzen – oft steht nicht die gesamte Fläche des Bildschirms zur Verfügung, weil noch weitere Fenster geöffnet sind. Das Problem dabei ist, dass sie nicht den ganzen Satz sehen, und so den Zusammenhang nicht intuitiv erfassen, keinen Überblick mehr haben.
Und die Unterrichtsstunden sind immer gleich aufgebaut: Der Lehrer macht eine kurze Einführung und dann gibt es Gruppenarbeit. Eventuell werden die Ergebnisse noch vorgestellt. Dabei weiss man, dass sich Schüler, wenn sie in Gruppen arbeiten, zurückziehen können, also gar nichts machen.
Und für manche Lehrer scheint diese Art von Unterricht auch bequemer zu sein ... Haben die Kids die Schulschliessungen, den Test- und Maskenzwang überwunden?
Wer fragt eigentlich, wie es uns Lehrern dabei gegangen ist! Wir müssen die Kinder seit Corona mehr disziplinieren. Früher kam man als Lehrer in eine Klasse und hat einander begrüsst. Da gab es gegenseitigen Respekt. Wegen der Schulschliessungen hatten Kinder in der Grundschule zwei Jahre lang keinen Präsenzunterricht, das merkt man.
Das Gemeinschaftliche ist weniger geworden. Der Umgang untereinander wurde respektloser, der Ton rauer. Und wir haben immer mehr psychosoziale Fälle. Das werden wir die nächsten Jahre noch weiter zu spüren bekommen.
Wir haben zwar Gelder erhalten für das Programm «Ankommen und Aufholen nach Corona» , aber es war kaum Zeit dafür vorhanden. Hier müsste es weitere Hilfsangebote geben.
Wann hat sich denn die Stimmung an der Schule so verändert, ist das erst seit den Schulschliessungen so?
Ungefähr vor zehn Jahren hat sich das massiv verändert. Angefangen haben wir im Jahr 2015 mit nur einigen internationalen Förderkindern. Im Laufe der Jahre hat die Anzahl erheblich zugenommen. Die Kinder werden auf mehrere Schulstufen verteilt und kommen aus unterschiedlichsten Herkunftsländern. Diese Kinder sind schulpflichtig und müssen beschult werden – auch an einem Gymnasium, selbst wenn sie kein Wort Deutsch sprechen.
Bei uns werden internationale Förderkinder in die Klassen integriert und haben täglich zwei bis vier Stunden Deutschunterricht. Das sieht zum Beispiel so aus, dass sie in den ersten beiden Schulstunden mit der ganzen Klasse Geschichte haben. Dort sitzen die internationalen Förderkinder im Unterricht und verstehen kaum oder noch gar kein Deutsch. Das ist nicht nur für die betroffenen Kinder, sondern auch für uns Lehrer schwierig. Wie soll ich ihnen Geschichte beibringen, wenn sie die Sprache nicht verstehen? Hinzu kommt, dass manchmal auch der Wille fehlt zu lernen.
Meine Vorstellung war, die internationalen Förderkinder in die Klassen zu integrieren, damit sie sich mit den Mitschülern anfreunden und voneinander lernen, wenn sie auf dem Schulhof Tischtennis spielen oder sich privat treffen. Aber das funktioniert so nicht. Das war eine Traumvorstellung.
Die meisten internationalen Schüler bleiben zwei Jahre in der Erstförderung auf unserer Schule und gehen dann. Insgesamt tut das den Klassengemeinschaften nicht gut.
Wäre es nicht sinnvoller, wenn internationale Förderkinder zuerst intensiv die Sprache lernen und dann am Regelunterricht teilnehmen?
Theoretisch schon, aber dafür fehlen uns die Kapazitäten. Selbst wenn der Krankenstand nicht so hoch wäre – im Moment haben wir einen Krankenstand von 30 Prozent. Seit Herbst 2022 zieht sich das durch das gesamte Schuljahr, ständig sind viele Lehrer krank.
Die internationalen Kinder bräuchten jedenfalls ein eigenes Programm. Sport, Kunst, Musik könnten sie mitmachen. Letztendlich bräuchten wir viel mehr Lehrer, die dafür ausgebildet sind, diese Kinder vernünftig zu integrieren.
Aber auch von der Grundschule kommen Kinder zu uns, die nicht alphabetisiert sind. Das bedeutet, sie können weder lesen noch schreiben – in keiner Sprache. Ihnen fehlt die sprachliche Kompetenz. Dabei hat das Gymnasium die Aufgabe, Kinder auf das Abitur vorzubereiten!
So wie es jetzt ist, bleiben alle auf der Strecke. Hinzu kommt, dass ich mir als Schulleitung die Lehrer nicht aussuchen kann, da muss ich schon eine sehr gute Begründung haben, um jemanden abzulehnen. Und die Bewerber werden auch immer weniger. Für ein Fach wie Englisch gab es früher 30 Kandidaten, heute nur fünf oder sechs.
Würden Sie heute noch einmal Lehramt studieren?
Die Schule war immer mein Wohnzimmer. Ich habe es geliebt, habe immer gern unterrichtet. Aber seit einigen Jahren, muss ich sagen, ist das anders geworden. Es ist kein Job auf Augenhöhe – inzwischen stört mich das. Als Lehrer bringt man immer Kindern etwas bei. Das funktioniert nicht auf Augenhöhe. Wenn das andere Schulen von sich behaupten, dann meinen sie damit eher, dass sie die Schüler respektieren oder wertschätzen.
Und Schulen haben kein Selbstbestimmungsrecht, keinen Einfluss darauf, was unterrichtet werden muss. Der Kernlehrplan wird auf Länderebene vorgegeben. Themen werden implementiert, wie vor kurzem das Gender-Thema für die Oberstufe im Englisch-Unterricht, namens «Questions of Identity and Gender». Das ist Abiturthema. Wenn wir das Thema nicht unterrichten, es aber eine Abituraufgabe ist, kann Widerspruch eingelegt werden. So wird sichergestellt, dass wir uns als Schule an die Vorgaben halten.
Derzeit wird in Zusammenhang mit Corona viel von Aufarbeitung und sogar Wiedergutmachung gesprochen. Ist das an Ihrer Schule ein Thema?
Für das kann es keine Wiedergutmachung geben! Lehrer sind mit Maske und Gesichtsschutz rumgelaufen. Erst unlängst musste ich mir von Kollegen anhören, dass die Corona-Zeit die schönste Zeit an der Schule überhaupt war, weil sie zu Hause bleiben konnten. Das hat mich sehr erschreckt.
Alle hatten Angst. Selbst im Sekretariat gab es Plexiglas und Flatterband. Oder wenn ich an die Zeit denke, als die Schüler in Gruppen von Schulhof geholt wurden und die Lehrer ihnen die Hände mit Desinfektionsmittel einsprühten.
All diese Tests, die bestellt wurden – auch dafür war plötzlich Geld da, der Sondermüll, das war völliger Wahnsinn. Ich entschuldige viele damit, dass sie damals aus der Angst heraus gehandelt haben.
Aber selbst heute redet kaum ein Lehrer über die RKI-Protokolle oder darüber, dass inzwischen sogar im Mainstream angekommen ist, dass alle Massnahmen unnütz und sogar schädlich waren.
Was wäre passiert, wenn Sie nicht mitgemacht hätten? Wenn Sie den Schülern die Masken abgenommen und nicht getestet hätten?
Ich hatte darüber nachgedacht, nicht mitzumachen. Aber dann hätten sich andere über mich beschwert: Die Kinder hätten ihren Eltern erzählt, dass sie keine Maske tragen müssen. Eltern und Lehrer hätten das bei der Schulbehörde gemeldet, und ich wäre wohl suspendiert worden. Nach so vielen Dienstjahren wollte ich nicht riskieren, meinen Anspruch auf eine Pension zu verlieren.
Ich habe gegen meine eigene Überzeugung gehandelt. Übrigens sind alle Lehrer Akademiker und müssten es besser wissen, aber sind wir doch ehrlich: Welches System will Kinder zu wirklich kritischen Menschen erziehen?
Der Name der Schulleiterin ist der Redaktion bekannt. Das Interview führte Sophia-Maria Antonulas.
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