Am Samstag hatte die Polizei in Berlin eine Veranstaltung zur Solidarität mit den Palästinensern gestoppt. Die Polizei rechtfertigte das Vorgehen mit der Befürchtung, dass der Redner Salman Abu Sitta auf der Konferenz per Video-Zuschaltung antisemitische Äusserungen machen könnte.
Wie die Deutsche Welle erklärt, sei Sitta Autor eines Essays, der im Januar erschienen sei und in dem er Verständnis für die Hamas-Kämpfer aüssere, die den Angriff am 7. Oktober in Israel verübten.
Auch der jüdische Aktivist Udi Raz wurde verhaftet. Ein Polizist habe sich sogar über seine Kopfbedeckung (seine Kippa) lustig gemacht, schreiben die Veranstalter.
Bei der Veranstaltung hätte auch der griechische Ökonom und ehemalige Finanzminister Griechenlands, Yanis Varoufakis, auftreten sollen. Um das zu verhindern, verhängten die deutschen Behörden kurzerhand ein Einreiseverbot gegen ihn. Varoufakis zufolge wurde auch ein Betätigungsverbot erlassen, dass die Teilnahme an Online-Veranstaltungen betrifft. Gemäss Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) handelt es sich hingegen «nur» um ein Einreiseverbot.
Fakt ist, dass die Veranstaltung in Berlin gestoppt wurde und Varoufakis nicht sprechen konnte. Das holte der Politiker nach: Er veröffentlichte seine Rede auf YouTube.
Indem sie in den Saal platzte und den Livestream unterbrach, sich das Mikrofon schnappte und den Kongress beendete, bewies die deutsche Polizei Varoufakis zufolge «zweifelsfrei», «dass der Faschismus nicht die Regierung stellen muss, um an der Macht zu sein».
Der Kongress sei organisiert worden, weil, wie die christliche palästinensische Politikerin Hanan Ashrawi gesagt habe, «wir uns nicht darauf verlassen können, dass die zum Schweigen gebrachten Menschen uns von ihrem Leid berichten». Doch es gebe einen weiteren Grund:
«Weil ein stolzes, ein anständiges Volk, das deutsche Volk, auf einen gefährlichen Weg und in eine herzlose Gesellschaft geführt wird, indem man es mit einem mit einem weiteren Völkermord in Verbindung gebracht wird, der wiederum in ihrem Namen mit ihrer Komplizenschaft durchgeführt wird.»
Varoufakis betont, dass auch Juden beim Kongress anwesend gewesen seien. Er bekräftigt: Die universellen Menschenrechte seien nicht verhandelbar. Er biete jeder Gruppe, die verfolgt wird, seine Solidarität an, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Nationalität.
Der Ökonom verurteilt die von beiden Seiten im israelisch-palästinensischen Konflikt begangenen Gräueltaten, weigert sich jedoch, den bewaffneten Widerstand gegen Israels «Apartheidsystem» zu verurteilen:
«Ich verurteile jeden Angriff auf Zivilisten, und gleichzeitig feiere ich jeden, der sein Leben riskiert, um die Mauer der Schande niederzureissen.»
Er bestreitet, dass israelische Juden das gleiche Leid erfahren haben wie Palästinenser, und argumentiert, dass die palästinensische Sache Aufmerksamkeit und Unterstützung verdiene.
Varoufakis stellt fest, dass das gesamte politische Spektrum in Deutschland, inklusive der Führer der Linken in Berlin, wochenlang versucht habe, die Konferenz zu verbieten. «Schämt euch, Genossen. Schämt euch!» Den Politikern allgemein sagt er:
«Ihr beschuldigt uns des antisemitischen Hasses. Wir beschuldigen euch, der beste Freund der Antisemiten zu sein, wenn ihr das Recht Israels, Kriegsverbrechen zu begehen, mit dem Recht der israelischen Juden, sich zu verteidigen, gleichsetzt. Ihr beschuldigt uns, den Terrorismus zu unterstützen. Wir werfen euch vor, dass ihr den legitimen Widerstand gegen einen Apartheidstaat mit Gräueltaten gegen Zivilisten gleichsetzt, die ich immer verurteilt habe und immer verurteilen werde, wer auch immer sie begeht. (...)
Wir werfen euch vor, dass ihr die Pflicht der Menschen in Gaza nicht anerkennt, die Mauer des offenen Gefängnisses einzureissen, in dem sie seit 80 Jahren eingeschlossen sind. Und wir werfen euch vor, dass ihr diesen Akt des Einreissens der Mauer der Schande –, die, ihr erinnert euch, genauso wenig zu verteidigen ist wie die Berliner Mauer –, mit Terrorakten gleichsetzt.
Ihr beschuldigt uns, die Anschläge der Hamas vom 7. Oktober zu verharmlosen. Wir werfen euch vor, die 80-jährige ethnische Säuberung der Palästinenser durch Israel und die Errichtung eines unverhüllten Apartheidsystems in Israel und Palästina zu bagatellisieren. Wir beschuldigen euch, Netanjahus langjährige Unterstützung der Hamas zu bagatellisieren.»
Varoufakis ist der Ansicht, dass Netanjahu der Hamas diese Unterstützung gewährt hat, um die Zweistaatenlösung zu zerstören, die deutsche Politiker angeblich befürworten. Und weiter:
«Wir beschuldigen euch, den beispiellosen Terror der israelischen Armee gegen die Menschen in Gaza, im Westjordanland und in Ostjerusalem zu verharmlosen. Ihr werft den Organisatoren des heutigen Kongresses vor, dass wir (…) nicht daran interessiert sind, über Möglichkeiten der friedlichen Koexistenz im Nahen Osten vor dem Hintergrund des Krieges in Gaza zu sprechen.
Ist das euer Ernst? Habt ihr den Verstand verloren? Wir werfen euch vor, dass ihr einen deutschen Staat unterstützt, der nach den USA der grösste Lieferant von Waffen ist, die das Netanjahu-Regime für die Massaker an Palästinensern einsetzt, um eine Zweistaatenlösung und ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Palästinensern absolut unmöglich zu machen. Wir werfen euch vor, dass ihr nie die relevante Frage beantwortet, die jeder Deutsche beantworten muss: Wie viel palästinensisches Blut muss noch fliessen, damit eure berechtigte Schuld am Holocaust weggewaschen wird?»
Indem der israelische Staat seinen palästinensischen Nachbarn die Apartheid aufzwinge und sie «wie Untermenschen» behandle, schüre er das Feuer des Antisemitismus. Er stärke diejenigen Palästinenser und Israelis, die sich gegenseitig vernichten wollen. Und schliesslich trage die Apartheid zu der schrecklichen Unsicherheit bei, die Juden in Israel und in der Diaspora plage:
«Um es unverblümt zu sagen: Apartheid gegen Palästinenser ist die schlimmste Selbstverteidigung der Israelis.»
Varoufakis merkt an, dass die Versuche der Palästinenser, ihre Ziele mit friedlichen Mitteln zu erreichen, nicht erfolgreich gewesen seien. Die palästinensische Befreiungsorganisation PLO habe Israel anerkannt, auch wenn Israel Palästina nie anerkannt habe. Und die PLO habe bekanntlich auf den bewaffneten Kampf verzichtet:
«Und was haben sie dafür bekommen? Absolute Demütigung und systematische ethnische Säuberung im Westjordanland. Sie geht in diesem Moment weiter. Das hat die Hamas hervorgebracht und sie in den Augen vieler Palästinenser zur einzigen Alternative zum Völkermord am palästinensischen Volk unter Israels Apartheid erhoben.»
Der Politiker fordert einen sofortigen Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln und einen Friedensprozess unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen:
«Rache ist eine faule Form des Trauerns. Wir sind nicht hier, um für Rache zu werben, sondern für Frieden und Koexistenz in Israel und Palästina. Wir sind hier, um den deutschen Demokraten, einschliesslich unserer ehemaligen Genossen von Die Linke, die eine grosse Enttäuschung waren, zu sagen, dass sie sich lange genug mit Schande bedeckt haben. Dass zwei Unrechte nicht ein Recht machen. Dass es das Erbe der deutschen Verbrechen gegen das jüdische Volk nicht verbessern wird, wenn man Israel mit Kriegsverbrechen davonkommen lässt. (…) ‹Nie wieder› bedeutet ‹nie wieder› für jeden, ob Jude, Palästinenser, Ukrainer, Russe, Jemenit, Sudanese, Ruander, für jeden, überall.»
Varoufakis kündigt die Teilnahme von MERA25, dem deutschen Flügel seiner Partei DiEM25, an den Wahlen zum Europäischen Parlament in Deutschland an. Er appelliert an die deutschen Humanisten, die über die Mitschuld der Europäischen Union am Völkermord in Palästina besorgt sind. Diese Komplizenschaft ermächtige die Antisemiten in Europa und darüber hinaus. Abschliessend fordert Varoufakis alle auf, sie mögen sich daran erinnern, dass Freiheit unteilbar sei und dass niemand von uns frei sei, wenn einer von uns unterdrückt werde.
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